Aus dem Maschinenraum der digitalen Literatur. Lose Gedanken beim Kennenlernen von Geräten

Zwei Tage lang bin ich ausgestattet mit zwei ultraneuen Geräten in München bei einem so genannten Kreativ-Wettbewerb gewesen. Motto: Einfachmachen. Einfach mal einen Text in zwei Tagen schreiben, der sich mit digitaler Literatur auseinandersetzt. Meine Denkergebnisse hier.

tldr: Der Text muss durch die Geräte durch.

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Im Karl-Valentin-Musäum, München.

Das leere Blatt gibt es nicht mehr. (Tränen, die Tinte verwischen, auch nicht. Ende des romantischen Blocks).

Das leere Blatt ist noch nicht einmal mehr ein Symbol für das Erschaffen von Texten. Denn das leere Blatt wurde von Reitern, Dateien, Programmen, Kacheln und Kanälen abgelöst. Der Einzug eines Blattes in die Schreibmaschine wurde ersetzt durch den Klick auf ein Symbol auf dem Schreibtisch, das laute Reinhauen in die Tasten durch samtiges Tippen. Werden Tipptöne auch von Sounddesignern geplant, so wie das Geräusch einer zufallenden Autotür? Das leere Blatt ist heute ein Spielplatz für die Backspacetaste. Es ist kein Archiv mehr, es ist ein Zustand. Er ist der weiße Saal, in dem die zehn oder weniger Finger das Buchstabenballett tanzen.

Schön ist es, dass der Schreibtisch noch Schreibtisch heißt, Weiterlesen »

Benjamin Maack in der Badewanne bei der #BachmannTwitterParty

Weil die Jury so schöne Wortkreationen fand wie „Teebeutelphilosophie“ oder „Tamponirritation“ möchte ich noch eine visuelle Kreation der Studiodeko, die ja bisher schon über den von Jo Lendle fotografierten #typofail, nämlich die auf der Bühne herumstehenden UTERATUR-Schilder, und die weiß übertünchten Amazon-Kartons auffiel, festhalten: Lesen in der Badewanne. Oft sah die Kombination aus Autoren-Lesesessel und Tisch, eng zusammengeschoben, wie eine weiße eckige Designerwanne aus. Hier der Beweis mit Benjamin Maack (Preisanwärter):

Benjamin Maack in der Badewanne

Morgen wissen wir mehr.

Ich stelle noch der Transparenz halber ein Studiofoto der #BachmannTwitterParty im Glas+Bild dazu, denn so sah es bei uns aus. Wir hören gerade Ijoma Mangolds Analyse der diesjährigen Trends zu (Texte jenseits von Schriftlichkeit, Verhandeln von Authentizität/Autobiographie und Fiktion). Wir waren zwischenzeitlich neun Public-Viewer, davon ein Vielleicht-Autor, Salim, nicht im Bild, der pünktlich um 9.30 Uhr vor der Tür stand, sich still und lächelnd an den Rand des Zimmers setzte, immer ja-sagend, aber leicht unsicher lächelte, wenn man ihn etwas fragte, ob er Autor sei (Ja?), ob er Deutsch verstehe (Ja?) und Englisch (Ja?), der sich alle Lesungen bis zur Pause interessiert anschaute. Eine Kurzgeschichte aus seiner Sicht möchte ich gerne schreiben. Aber jetzt erstmal. Bis bald.

Bachmann Twitter Party 2013

Und kauft den nächsten Freitag, darin findet ihr meine Bachmann-Twitter-Berichterstattung. Puh, was habe ich mir da vorgenommen … Any tips for writing, very welcome.

Zur Web-Fähigkeit des Bachmann-Wettlesens

Man sollte meinen, mehr als zwanzig Jahre nach Erfindung des WWW (1989) sollte auch im Literaturbetrieb bei öffentlichkeitswirksamen und medien-affinen (ORF) Veranstaltungen das Internet eine Rolle spielen. Sollte man. Aus Jux und Tollerei habe ich daher die Webseite des 37. Ingeborg-Bachmann-Wettlesens in Klagenfurt, das in ein paar Tagen beginnt, einer Neue-Medien-Kritik unterzogen:

Es gibt eine Seite mit Linktipps für Webseiten, die allerseits bekannt sind wie der Perlentaucher; als deutsche Onlinemedien werden der Cicero und die Edit genannt. Wo sind die Blogs? Weiterhin findet sich ein Navigationspunkt Multimedia. Hier sind die Videoporträts der eingeladenen Autorinnen und Autoren aus dem hiesigen und den vergangenen Jahren eingestellt, man kann aber auch Pressefotos herunterladen.

Und da beginnt die Nicht-Web-Fähigkeit des Bachmann-Wettlesens: Die Videos sind auf der Webseite eingebettet und können nicht weiterverlinkt werden. Auch gibt es auf der Webseite an keiner Stelle den Hinweis auf den schon seit Jahren benutzten Hashtag auf Twitter, in diesem Jahr #tddl13. Noch zeitgemäßer wäre natürlich ein Twitterstream. Auf Facebook ist der Wettbewerb nicht zu finden, der ORF schon, allerdings nur mit einem Wikipedia-Eintrag, also dort kein Hinweis auf den Wettbewerb, die seit kurzem verfügbaren Autorenvideos oder auf die Sendezeiten im ORF, denn radikalerweise wird die viertägige Veranstaltung auf ORF und 3sat seit 25 Jahren live übertragen, das nennt sich Lesen live. Das ist radikal, weil TV-Schauen heutzutage immer radikaler wird. Daher lädt die schriftstelle zusammen mit Katy Derbyshire von Lovegermanbooks und Fabian Thomas von The Daily Frown (hier sein Klagenfurt-Kompendium mit Highlights der vergangenen Jahre) ins Kreuzberger Gemeinschaftsbüro Glas+Bild, ein. Dort wird am Samstag, 6. Juli 2013, von 9.35 bis 14 Uhr das Wettlesen kollektiv im TV angeschaut: Bachmann Twitter Party. Kommt gerne vorbei, bringt eure Grundversorgung an Essen und Getränken und Handyaufladekabel selbst mit.

Nun könnte man meinen, was soll’s, der ORF will eh das Wettlesen abschaffen. Aber bis es soweit, also 2014 ist, ist erstmal 2013. Auf Facebook wurde schon wild diskutiert, ein wütender Beitrag des österreichischen Bachmannpreisträgers Franzobel schaffte es auf 230 Likes und 114 Shares. Für die, die nicht auf Facebook sind, zitiere ich:

Ja, schafft den Bachmannpreis ab. Bravo. Was wir brauchen, sind Übertragungen von Reifentests der Formel Eins, Berichte von Fußballtrainings, mehr Koch- und Castingshows, Liveschaltungen zum Skiwachseln, Dschungelshows, Promis im Weltall, Musikantenstadel vom Mars, das ist es, was uns fehlt, wonach wir lechzen, aber doch sicher keinen Literaturlesewettbewerb, kein Juroren-beim-Denken-Zusehen, neue literarische Stimmen, Poesie? Gespräche mit Autoren? Diskussionen über Schreibstile und literarische Richtungen? Langweilig! Fad! Das ist doch alles nicht mehr zeitgemäß. Es wird Zeit, dass die neuen Medien ihren endgültigen Sieg über die Literatur auch zur Schau stellen dürfen.

Das gab anderen Anlass zur Frage, was er denn damit meine, wie denn die neuen Medien ihren endgültigen Sieg über die Literatur zur Schau stellen könnten – wo sie doch bisher gar nicht beteiligt sind?

Das britische Institut Austrian Research UK hat derweil proaktiv zu einem Kommentar-Wettbewerb aufgerufen: 500 bis 1000 Wörter zum Thema „THE IMPACT OF GERMAN LITERARY PRIZES & AWARDS ON LITERATURE“ werden gesucht. Mehr Infos gibt es über heide.kunzelmann@sas.ac.uk. Ich habe die Information von der Facebookseite des Ingeborg-Bachmann-Centres for Austrian Literature an der University of London. Vielleicht sollten sie den nächsten Wettbewerb ausrichten. Per Facebook.

Neue Rubrik: Der Quartalsbericht

Ich glaube, jeder Blogger, jede Bloggerin kennt das Problem des Bloggenwollens-und-dann-doch-nicht-Bloggens. Wie viele Blogs da draußen nicht aus Themenmangel oder Schreibunlust, sondern einfach aus Zeitmangel, brachliegen! Ja, Zeit. Bloggen kostet Zeit, denn es bedeutet, sich hinzusetzen, die Gedanken zu ordnen, einen Anfang zu finden, ein Ende zu finden, dazwischen noch was, zu verlinken, Fotos zu suchen, zu benennen, hochzuladen. Bestimmt einmal in der Woche denke ich: Das wäre jetzt etwas für die schriftstelle, darüber müsste ich schreiben; und dann schreibe ich gar nichts. Es ist so frustrierend. Sonst funktioniert meine Selbstmotivation doch auch, wieso nicht hier!?

Um diesem frustrierenden Treiben ein Ende zu setzen, habe ich heute eine innere Redaktionskonferenz mit mir selbst abgehalten und entschieden, dass jetzt Handeln angesagt ist, nicht mehr nur Wollen, es darf kein Aufschub mehr gegeben werden … kurz: Ich starte ich eine neue Rubrik: den Quartalsbericht. Das klingt wie die Mehrwertsteuervoranmeldung und das soll auch so sein, schließlich befinden Sie sich hier auf der schriftstelle, einer Art Textbehörde. Sie bündelt fortan vierteljährlich die Bücher in einen Text, die mir in drei Monaten etwas Hängenbleibendes vermittelt haben. Die Bücher hängen thematisch nicht zusammen, müssen keine Neuerscheinungen sein, sind aber auch immer welche dabei. Ich bespreche alle Genres und auch Original-Ebooks, Taschenbücher, Zeitschriften.

Morgen kommt der 1. Quartalsbericht für 2013, u.a. mit dem kubanischen Topmodel Jorge Gonzales und seinem Lebensbericht „Hola Chicas! Auf dem Laufsteg meines Lebens“ und einem Ebookessay von Byung-Chul Han „Bitte Augen schließen“ bei Matthes& Seitz.

Leipziger Buchmesse: Blog-Rundschau

Es ist fast unmöglich, von der Leipziger Buchmesse zu bloggen. Denn ein offenes Presse-WLan gibt es nicht. Das Pressezentrum liegt ab vom Schuss. Die Smartphone-Netze werden durch zu viele Messewände niedrig gefiltert. Ich habe auf der Messe zwar ab und zu Tweets verschickt, aber immer kam die Meldung zurück „Tweet konnte nicht gesendet werden, er wurde gespeichert“. So oder so ähnlich ist es frustrierend.

Also Hut ab für alle, die es dennoch geschafft haben: Margarete Stokowski wie immer charmant und bissig für die taz (mein Lieblingsbericht von ihr ist der über die erotische Lesung des Konkursbuchverlags, toll aber auch die Zusammenstellung von Cosplayern). Auf Litaffin gab es Wahrnehmungsschnipsel mit Handyfotos und den Bericht von der LitPop-Party. Die Lettrétage bloggte zum ersten Mal von der Messe, allerdings mit so viel Stoff und Formatvielfalt, dass das Blog wie eine zweite Buchmesse überfordern könnte. Da gibt es Hördichte (also gelesene Gedichte per Soundcloud), kurze Filmclips, in denen Tom Bresemann mit Bekannten einen Sekt auf Ex kippt, Lesungsberichte, Fotostrecken und, vor allem magazinige Beiträge wie den über das graphische Viertel von Florian Wacker.

Katy Derbyshire, die mit Lovegermanbooks die Speerspitze des Literaturbloggens anführt und neuerdings mit einem Blog, in welchem sie Barbesuche mit Autoren zusammenfasst, die Blogosphäre bereichert, ging unbemerkt mit Francis Nenik in den Irish Pub in Leipzig. Nenik gewann beim Edit-Essaywettbewerb den zweiten Platz, lebt bäuerlich auf dem Land, trägt ein Pseudonym und niemand weiß, wie er aussieht. Außer eben jetzt: Katy.

Wenn ich einen Blogeintrag über die Messe geschrieben hätte, hätte ich über die Zufälle geschrieben, die mit Mobilität zu tun haben. Denn ich bin bei der Messe gefühlte hundert Mal am Forum Religion vorbeigelaufen, in dem immer irgendjemand sich über den neuen Papst gefreut hat, der ja gerade von Buenos Aires in den Vatikan umgezogen war. Den Bibelbus habe ich dieses Mal nicht gesehen, schade, aber er soll auch irgendwo gewesen sein. Stattdessen redete ich mit einem Studenten von der FH Weißensee darüber, dass er eigentlich einen Hummer, also diesen US-amerikanischen Geländewagen, zum Stand bringen wollte. Es hätte nur 1.000 Euro gekostet und es wäre die perfekte Antithese zum Buch gewesen. Aber der Professor wollte nicht. Jetzt wird der Student bildender Künstler und ich denke, er wird noch von sich hören lassen. Auch zum Ebook wäre der Hummer eine super Antithese gewesen. Ah, zu dieser Frage, dass Buch und Ebook nicht immer als Antithese zusammenhängen, hat David Hugendick etwas auf ZEIT ONLINE geschrieben.

Meine Haupterkenntnis zur Messemobilität sind die Zwischenhöfe zwischen den Messehallen. Sie sind die besten Abkürzungen, nie verstopft, immer mit guter Luft und offenem Himmel. Und sehr häufig trifft man auf den Höfen auf Freunde aus Berlin. Nur dass in Leipzig die Taschen immer schwerer sind als in Berlin.

Mein erstes Mal als Ebookverlegerin

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Ich habe neue Schuhe. Verlegerschuhe, nenne ich sie. Sie sind aus braunem Leder, flach, englisches Lochmuster, hoffentlich bequem. Verleger müssen doch seriös aussehen, dachte ich mir, aber auch nicht allzu modisch. Sie sind nicht für das Äußerliche zuständig, sondern für das Innerliche. Sie müssen ihr Innerstes nach außen kehren, ihren Geschmack auf den Markt werfen, und gut, der muss dann auch ansprechend aussehen, er wird zu einem gestalteten Produkt, der sich durch die Zeiten erhalten soll. Eher klassisch. Aber ich schweife ab. Die beiden letzten Tage trage ich diese Schuhe ständig, sie müssen eingelaufen werden. Sie müssen sich an die neue Situation gewöhnen, genauso wie ich. Bisher machen sie ihre Sache ganz gut.

Denn diese Messe ist meine erste Buchmesse als Verlegerin eines Ebookverlags für kurze digitale Texte. Das ist neu. Ich habe keinen Stand, ich habe keine Druckwaren. Ich habe keine Vorschau, die ich verteilen kann. Aber: Ich habe Dateien und eine URL. Und verschiedene Lesegeräte. Mit ihnen werde ich in den Gängen der Messehallen auf- und ablaufen (in meinen bequemen Schuhen ist das ja kein Problem) und werde für alle, die es interessiert, die Ebooks meines Verlags mikrotext aufrufen. Ich werde sozusagen ein wandelndes Ebook sein. Nein, zwei.

cover-02-saeed-692x1039-fertigDie schwierigste Frage, die sich mir stellte, war jedoch: Wie präsentiere ich ein Ebook in einer Veranstaltung? Sandra Hetzl, die Übersetzerin des Ebooks „Der klügste Mensch im Facebook“, das wir am Freitag, 15. März um 13 Uhr in Halle 3.0 im Forum Hörbuch+Literatur vorstellen, war genau meiner Meinung: einfach vom Smartphone ablesen, aufs Display starren, autistisch (versunken). Es ist, was es ist, sagt das Ebook. Für alle Freunde von Druckwaren habe ich noch zwei Überraschungen dabei: Ich habe die Buchcover und laminiert und werde sie mit Tesafilm an den Bühnenrand pappen. Außerdem verteile ich Postkarten mit einer mikro-Leseprobe. Und über neue, noch innovativere Ideen für die materielle Messenvermarktung von immateriellen Epubs, freue ich mich sehr.

Zuerst erschienen auf dem Messe-Blog der Lettrétage, dem Lettrétagebuch.

Literaturseminar des British Council fragt nach „Writing in Public“

Mein kurzes Interview mit dem britischen Schriftsteller John Lanchester („Kapital“, hier eine Kritik in der Berliner Zeitung) zum Titel des diesjährigen British Council-Literaturseminars vom 24. bis 26. Januar, bei dem jährlich seit etwa 20 Jahren englischsprachige Autoren vor der versammelten deutschen Anglistik, vor Lektoren und Journalisten über ein gegebenes Thema diskutieren, angenehm pragmatisch, unakademisch und lesungsreich. Ich habe John Lanchester gefragt, was er eigentlich unter „Writing in Public“ versteht, warum der Begriff „intellectuall“ einen schlechten Ruf hat und was für ihn „vitamin books“ sind.

Eine Zusammenfassung der vielfältigen creative-writing-Tipps kommt in den nächsten Tagen. (Bis Ende März ist es da, versprochen. 18.3.2013)

Und was meint ihr: Ist „intellektuell“ ein Schimpfwort? Ist es nicht eher ein inneres Hipstertum, außen schwarzer Rolli, innen Adorno und Negri? Ist es nicht eine Haltung, die zu retten ist, eine engagierte schriftstellerische Aufgabe, die Pflicht zur Einmischung? Auf dem Podium lehnte es Esther Freud (eine der vielen, man schätzt 70, Töchter von Lucian Freud), Autorin, es ab, einen Leitartikel zu schreiben. Mir kommt das falsch vor. Autoren könnten mit Leitartikeln eingreifen, in ein Denken, sie müssen ja keine dogmatischen Meinungen setzen oder zu einem Punkt kommen. Aber sie sollten sich mit ihren Argumenten und Ästhetiken einschalten. Sonst driftet da die Literatur weg von der öffentlichen Diskussion. Und das wäre schlecht. Meiner Meinung nach.

Portable Book Fair im Alten Finanzamt

Ich sollte diesen Text nicht auf Deutsch schreiben, sondern auf Englisch oder Spanisch oder Französisch oder Italienisch. Denn bei der vierten Ausgabe der Portable Book Fair am 19. Dezember waren das die meist vertretenen Sprachen. Wo waren die deutschsprachigen Indie-Verlage und Fanzines? Warum sind die Szenen so getrennt? Oder lag es an der Nähe zu Weihnachten, dass viele bereits nach Hause gefahren waren?

Voll war es also nicht im Alten Finanzamt in Neukölln, aber vielfältig. Das Occulto Magazine erkundete „neue Möglichkeiten der Popularisierung von Wissenschaft bezogen auf visuelle Kunst, parawissenschaftliche Theorien und Ideengeschichte“; Gaëlle Kreens legte die Publikationen ihres „ß éditions Verlag Publishing“ aus, Lyrikbände mit CDs, sowie Symbolsprachenposter für Impromusik – und sie las eigene Gedichte aus „North Berlin – South Berlin“ vor. Kein Berliner würde von Nord- und Süd-Berlin sprechen, sondern immer in den Ost-West-Mitte-Achsen denken, also hier: Horizonterweiterung. Sie entlockte den Heizkörpern mit einem Stock Geräusche und erleuchtete den Raum mit einer Laterne, vollgestopft mit einer Lichterkette. John Holten von broken dimanche press wollte dagegen die Welt dimmen. Das Kollektiv Milena Berlín hatte brandneue Bücher dabei, von Katja von Helldorff und von mir (poesia del parque. poemas en espanol falso). Rery las ein Langgedicht aus ihrem bei Milena erschienenen Band „la republica en el espejo“ und Roberto Equisoain die Bla-Bla-Bla-Version der Menschenrechtserklärung. Ich tauschte zwei meiner Bücher gegen Robertos neue“Apocalipsis No“, eine Negativmachung der Apokalypse, erschienen bei produccionesescopeta und gegen ein Fanzine von Piso.

Gutes Zeug, also: Die nächste Portable Book Fair muss größer werden. Und deutscher. Bitteschön.

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Gaëlle Kreens Symbolschrift. Die ist zumindest ohne bestimmte Sprachkenntnisse verständlich.

Willys Suhrkamp Culture

In der Tübinger Germanistik-Bibliothek im Brechtbau schlug ich einst einen Band der edition Suhrkamp auf, eines dieser einfarbigen Taschenbücher in berühmter Regenbogen-Gestaltung. Der Urheber war natürlich namentlich genannt. Umschlagentwurf: Willy Fleckhaus. Mit Bleistift hatte jemand daneben geschrieben: „Toll, Willy!“ Seitdem muss ich immer, wenn ich an Suhrkamp denke, „Toll, Willy“ denken. Ich könnte auch, „Toll, Siggi“ oder „Toll, Ulla“ denken, aber warum ich das nicht tue, hat damit zu tun, dass Willys Serie einfach das Sinnbild der Suhrkamp-Kultur war. Und immer noch ist. Fast alle Artikel zur aktuellen Suhrkamp-Misere sind mit Willys Farben bebildert. Auch wenn einige Journalisten jetzt versuchen, der neuen Suhrkamp-Kultur (Berlin-Umzug und aktuelles Literaturprogramm mit Schalanksy, Goetz, Kongo-Buch) auf die Spuren zu kommen, wie im Freitag Michael Angele oder The Daily Frown die Handkebücher als eines der letzten Überbleibsel ebendieser Kultur ansieht, so ist das doch vielleicht etwas wenig für einen Verlag, der einst den intellektuellen Diskurs der Republik prägte.

Letzte Etappen lassen sich so zusammenfassen: Popliteratur?, das machte Kiwi mit Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre besser als Suhrkamp mit Thomas Meinecke und Andreas Neumeister. Literaturtradition? findet man in Literaturzeitschriften wie Sinn und Form, neulich auch in der Randnummer mit Höllerer-Gedichten. Gesellschaftliche Debatten, das erledigen die Autoren anderer Verlage. Schirrmachers Netzgedanken oder Hegemanns Blog-Kopimismus oder Stéphane Hessels Aktivismus, nichts davon bei Suhrkamp.

Als Ulla Unseld-Berkéwicz 2007 den Verlag der Weltreligionen gründete, war ich kurz sehr angetan, denn in Zeiten der Säkularisierung unseres Alltags und der Religiösierung vieler Weltkonflikte erschien mir der Fokus auf religiöse Urtexte und wissenschaftliche Erläuterungen sehr mutig, dieser Verlag als fundamental-humanistisches Aufklärungsprojekt fürs 21. Jahrhundert sehr nötig. Ebenso die (2010?) modernisierte, schlanke und elegante Suhrkampwebseite zeigte, dass der Verlag durchaus auf der Höhe der Zeit sein kann, auch wenn das Netz im Verlag wirklich stiefmütterlich behandelt wird. Hier ein Facebook-Quiz, da ein naives Buchblog – da ist der Verlag allerdings auf der Höhe mit anderen Verlage, wie Katy Derbyshire hier hübsch zusammenfasst. Der Umzug nach Berlin 2010, begleitet von einer angemieteten Ladengalerie in der Linienstraße im Sommer mit Lesungen und Djs: ein Versuch, in der Hauptstadt anzukommen, Gastfreundschaft zu zeigen und neue Kontakte zu knüpfen. Auffällig: in dem nur weiß eingerichteten Raum schmückte Willys Farbverlauf die Wände. Als hätte man nur das. Aber was hat man wirklich? Die aktuellen Querelen in der Geschäftsführung muten von außen gesehen wie Kindergarten an. Jeder zerrt an dem Spielzeug, bis es kaputt ist, und bestimmt hat jede Seite auch irgendwie Recht. Aber wenn es so weitergeht, werden die Autoren woanders hinwandern. Was bleibt, ist die Backlist. Und Willy.